Systemische Therapie (als psychotherapeutisches Verfahren)1 Vorbemerkung Oft werden psychisch leidende Menschen als Behälter individueller Symptomatiken aufgefasst - so als fänden diese Symptomaktiken sozusagen im psychosozialen Vakuum statt. Symptomatiken treten jedoch nicht isoliert auf, sie weisen vielmehr über sich selbst hinaus und erhalten erst dadurch ihre Bedeutung, dass sie sich im aktuellen Kontext von Beziehungen vollziehen und diese Beziehungen als deren Bestandteile mitgestalten. Mit anderen Worten es gibt keine Symptomatiken, die nicht Bestandteile von konkreten Beziehungen wären und diese mitgestalten würden.
Definition Systemische Therapie versteht Symptomatiken somit im Kontext variabler Beziehungsnetze, mit denen man selbst auch als Praktiker, Theoretiker oder Wissenschaftler verwoben ist, sobald man sich mit ihnen beschäftigt. Mithin ist es nicht möglich, einen «objektiven Beobachterstandpunkt» gegenüber Symptomatiken einzunehmen. Zwischenmenschliche Geschehnisse - also auch Symptomatiken - werden immer systemisch kontextualisiert und somit als soziale Konstruktionen verstanden. Indem die Systemische Therapie historisch gewachsene Beziehungswirklichkeiten anerkennt und an der Erzeugung neuer Beziehungswirklichkeiten beteiligt ist, geht sie im Einzelfall aus dem hervor, was in der Vergangenheit geschaffen wurde. Somit ist sie bis zu diesem Punkt gesehen postfaktisch2. Sie findet jedoch insbesondere in der Gegenwart statt und weist in eine Noch-Nicht-Gegebene-Zukunft. Damit wirkt sie präfaktisch3- sie realisiert sich, indem sie ständig neue Wirklichkeiten in der Gegenwart erschafft und orientiert sich dabei an Vorstellungen (Antizipationen), die wir mit der Zukunft verbinden. Sie tendiert dazu kurz zu sein, indem sie sowohl die sogenannten Symptomträger als auch die Beziehungspartner in die gemeinsamen Überlegungen, Gespräche und Formen der Zusammenarbeit mit einbezieht, auf die individuellen Bedürfnisse der Beteiligten eingeht und sie koordiniert. Dadurch vermeidet sie Zeitverluste, die durch mangelnde Koordination entstehen können. Um dies zu erreichen, steht die Qualität der Dialogischen Zusammenarbeit4im Zentrum der Systemischen Therapie. Dazu gehört, dass alle Problembeschreibungen der teilnehmenden Beziehungspartner und ihr Zusammenwirken ernst genommen und wertgeschätzt werden. Sowohl die Stimmen als auch die Beschreibungen der Klient:innen und Therapeut:innen sind gleichberechtigt. Systemische Therapie findet auf Anfrage statt und setzt unverzüglich ein: dadurch dass keine Wartezeiten entstehen, kann sie sich im besten Fall auf wenige Sitzungen begrenzen und vermeidet so Zeitverluste und Schädigungen, die sich z.B. in Chronifizierungen zeigen können. Weil es ihr Ziel ist, Symptome und ihre Problemzusammenhänge aufzulösen, ist sie ergebnisoffen und nicht vorhersehbar: Die präfaktische Ungewissheit der therapeutischen Zusammenarbeit führt über das postfaktische Wissen, das alle Beteiligten mit in die Therapie einbringen, hinaus. Sie mündet ein in neue nicht-vorhersehbare Bereiche, in denen die Konstruktion neuer Möglichkeiten stattfindet. Die genannten Merkmale tragen zur Qualität der therapeutischen Zusammenarbeit und Wirtschaftlichkeit der Systemischen Therapie in dem Sinne bei, dass sie entpathologisieren, Symptome reduzieren und auflösen, neue Handlungsmöglichkeiten schaffen, die Zufriedenheit der Klient:innen erhöhen und die Dauer der Therapie verkürzen. Fußnoten 1 Deissler, Klaus G. & Kaya, Ahmet. Systemische Therapie wertschätzen.Systemagazin, 2019. 2John Shotter benutzt in seiner Diskussion den Begriff «after the fact» (nach dem Faktum), was wir der Einfachheit halber mit postfaktisch übersetzt haben.Shotter, John, 2016. Speaking, Actually: Towards a New 'Fluid' Common-Sense Understanding of Relational Becomings. EIC Press, London 3 Entsprechend verwendet John Shotter den Begriff «before the fact» (vor dem Faktum), den wir wiederum als präfaktisch übersetzen. Shotter, John. 2016, a.a.O.. 4 Deissler, Klaus G., 2016. Sozialer Konstruktionismus - Wandel durch dialogische Zusammenarbeit. In: Levold, Tom & Wirsching, Michael (hg). Systemische Therapie und Beratung - das große Lehrbuch. Carl-Auer, Heidelberg (2. Auflage).